"Olympia in Berlin" ist das Titelthema der neuen Ausgabe unseres Magazins "Sport in Berlin"

Steffen Scherping ist der Vizepräsident des Judo-Vereins Kaizen. Wenn Deutschland und Berlin die Chance ungenutzt lassen, sich für 2036 oder 2040 zu bewerben, sagt er, droht man, „die Zeit zu verpassen“. Was er damit meint, lesen sie in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins "Sport in Berlin", die heute erscheint oder hier:

Also Zeit, keine Zeit zu verpassen

Wie es sich anfühlt, wenn Olympia nach Berlin kommt, erlebten einige Nachwuchs-Judoka im Oktober 2022. Da kam Laura Vargas Koch, Bronzemedaillengewinnerin in Rio 2016, ins Horst-Korber-Sportzentrum. Über 30 Aktive durften mit der Olympionikin trainieren, im Anschluss gab es eine Autogrammstunde, Fotos mit olympischer Fackel - und eine „Traumwand“.

Kinder und Jugendliche durften ihren ganz persönlichen „Traum von Olympia“ dort aufschreiben.  „Unbedingt in Berlin“, „2036 in Berlin“, „Völkerverständigung“ oder „Bau neuer Sportanlagen“ stand am Ende darauf. Kaizen Berlin, mit 1600 Mitgliedern der größte Judoverein der Hauptstadt, war einer der ersten Vereine, die an der Veranstaltungsreihe „Mein Traum von Olympia“ teilnahmen. Inzwischen sind es schon mehr als zehn Vereine.

Wie es sich anfühlt, wenn Olympia noch nicht kommt, merkt man an einem Berliner Winterabend in der Turnhalle des Hildegard-Wegscheider-Gymnasiums in Grunewald, wo Kaizen meist trainiert.
Ein halbes Dutzend Jugendliche in weißen und blauen Kampfanzügen übt dort auf den Matten, die sie kurz zuvor selbst auslegen mussten. Die Fenster sind offen, die Heizung aus, die Füße frieren.

„Mehr kommen heute nicht“, sagt Vizepräsident Steffen Scherping, sonst seien es doppelt so viele.
„Es ist Ferien- und Erkältungszeit, seit Corona haben wir viele Spitzennachwuchskräfte verloren.“
Ein siebter Jugendlicher kommt verspätet, sorry, er habe „die Zeit verpasst“. Wie gehe denn das, fragt Scherping belustigt. Der Versprecher könnte sinnbildlich für eine Olympiabewerbung stehen.

Wenn Deutschland und Berlin die Chance ungenutzt lassen, sich für 2036 oder 2040 zu bewerben, droht man, „die Zeit zu verpassen“. Und die Gelegenheit, nicht nur Vereine wie Kaizen zu stärken. Auch den Nachwuchs in und die Entwicklung des Standorts Berlin insgesamt, nicht bloß im Sport.
An Berlins größtem Judoverein lässt sich gut illustrieren, was ein Zuschlag konkret vor Ort brächte.

„Wir sind für eine Bewerbung, weil sie dem gesamten Sport, nicht nur Judo, einen Schub brächte“, sagt Scherping und zeigt auf seine Nachwuchssportler. „Damit kann man junge Leute motivieren, auf etwas hinzuarbeiten. Wenn man das Ziel hat, in der eigenen Stadt Wettkämpfe durchzuführen, ist das eine Motivation, die wichtig ist und viel bewegen kann.“ Beine bewegen, aber auch Steine.

Der stellvertretende Vorsitzende deutet um sich. „Das ist unsere Haupthalle und Teil des Problems.“
Obwohl das Grunewalder Gymnasium hier architektonisch ein Schmuckstück ist, ist die Sporthalle, nun ja, eine Schulsporthalle eben. Wo für jedes Training Matten auf- und abgebaut werden müssen.
„Wir geben Training an 36 Standorten berlinweit, aber haben keine eigene Halle für Wettkämpfe“, sagt Scherping. So kämpft man wie viele Vereine um Hallenzeiten, auch für die Gürtelprüfungen.

Man arbeite an allen Fronten für eine eigene Halle, aber Olympia in der Stadt würde sicher helfen.
„Alte Sportstätten würden renoviert, vielleicht neue gebaut, es brächte dem gesamten Sport etwas.“
Das Gefühl, das für Berlins Bewerbung für Olympia 2000 ja noch viel Infrastruktur stehe, trüge.
„Die Anforderungen sind in diesen 20, 30 Jahren ja noch einmal anders und viel höher geworden.“

Für junge Judoka wäre ein Heimspiel in Berlin ein Game Changer, versichert Scherping, brächte bessere Bedingungen und mehr Anreiz für Leistungssport. Was sagen die Nachwuchssportler selbst? „Olympia ist für viele ein Traum, vor allem für Jüngere“, sagt Julia Beissenhirtz, 17 Jahre. „Wenn eine Olympiadritte wie Laura Vargas Koch spricht, hängt man an ihren Lippen, sie ist ein Vorbild.“

Trainer Jakob Spiegel stößt dazu und sagt, Olympia wäre eine echte Chance für den Berliner Sport:
„Corona hat viele Jahrgänge gekostet, die aufgehört oder sich vom Leistungssport entfernt haben. Gerade für Kinder, die jetzt anfangen, wäre es ein Anreiz, das Ganze nicht nur als Hobby zu sehen.“
In der Breite habe Kaizen ja Zulauf. Das Problem sei der Übergang zum leistungsorientieren Sport.

Nicht jeder will für Wettkampfsport auf höchstem Niveau fast alles Andere im Leben zurückstellen.
Aus Erfahrung weiß Vizepräsident Scherping, dass zum Leistungssport persönliche Opfer gehören.
In den Achtziger Jahren war er als Aktiver dreimal Vize-Europameister bei den Unter-21-Jährigen, Dritter bei Studentenweltmeisterschaften. Von 1992 bis 2016 habe er dann nichts mehr mit Judo am Hut gehabt, sich beruflich etwas aufgebaut. Es gibt im Leben eben Punkte, wo man Prioritäten setzt.

Aber als sein Sohn in die erste Klasse kam, war er wieder öfter dabei. Scherping engagierte sich als Trainer und im Verein als stellvertretender Vorsitzender. Sein Sohn wäre vom Alter ein Kandidat für 2036 oder 2040, aber beim Training fehlt er heute, weil er im Skiurlaub ist. Scherping weiß, dass zu Olympiateilnahme oder gar Medaille extreme Motivation nötig ist, neben Glück mit Verletzungen.

Und Förderung. „Wir sind keine Sportart wie Skispringen, wo man von Werbeverträgen leben kann. Wir brauchen Unterstützung, staatliche, aber vor allem von Eltern, die ihre Kinder zum Training bringen.“ Für die sei ein Ziel wie Olympia auch ein Anreiz: Mein Kind trainiert für 2036 oder 2040.
Doch viele Eltern sehen es eher als zeitraubend an. Gleichzeitig schätzen sie Judo-AGs an Schulen.

Würde ein Verein wie Kaizen gefördert vor Olympia, könnte er dort noch mehr Angebote machen.
Auch so könne man eine Bewerbung bewerben: Sport als Unterstützung der Eltern, bei Betreuung und Erziehung der Kinder, für Wertvermittlung, Aggressionsabbau, für Respekt und Verständigung.
So hatte Kaizen eine Austauschreise nach Israel geplant, die wegen der Lage dort abgesagt wurde.

Deswegen sieht Scherping es anders als Kritiker, die sagen: Olympia koste viel und bringe wenig.
„Wenn die Sportstätten renoviert statt neu gebaut würden und ein Olympisches Dorf entstünde, das später zu Wohnraum wird – das bräuchte Berlin. Auch modernisierte Infrastruktur im Verkehr.“ Und 100 Jahre nach den Nazis wäre Olympia 2036 eine gute Gelegenheit für mehr Bildungsarbeit dazu.

Es wäre also Zeit, keine Zeit zu verpassen. Doch erstmal ist das Training bei Kaizen Berlin vorbei. Zeit, die Matten abzubauen.

Autor: Dominik Bardow

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